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Kopfkino: So heilsam sind Tagträume

Jeder von uns hat sie, die wärmenden, wohltuenden Tagträume. Sie geben uns Kraft, sind entspannend und heilsam. Experten gehen davon aus, dass wir fast 50 Prozent unserer Wachphase mit Tagträumen verbringen – oft, ohne uns dessen bewusst zu sein.Von Birgit Weidt

Und um es gleich vorwegzunehmen: Sie sind weder Zeitverschwendung noch ein „Wegtreten“ oder vorsätzlicher Rückzug in eine Parallelwelt. Man bezeichnet sie auch als Fenster zur Seele. Sie sagen viel darüber aus, was wir vom Leben erwarten und welche Sehnsüchte wir haben. Tagträume haben eine positive Ausrichtung, schweifen von einer Assoziation zur nächsten. Sie verknüpfen unterschiedlichste Gehirnregionen miteinander, so dass oft überraschende Bilder und neue Gedanken aufsteigen, die es in der Zielgerichtetheit des Alltags nicht an die Oberfläche des Bewusstseins schaffen, da wir im Alltag konkret und lösungsorientiert denken.

Wann Tagträume auftauchen

Wenn wir etwas tun, das nicht die volle Konzentration beansprucht, tauchen wir in unsere ureigensten Geschichten hinab. Wer kennt ihn nicht, den weiten Blick aus dem Fenster während langer Zugfahrten, wo wir alles vorbeiziehen sehen, ohne genau auf irgendetwas zu schauen. Auch bei moderaten Wanderungen oder meditativem Gartenumgraben kann sich trotz körperlicher Beanspruchung eine mentale Entspannung breitmachen und unser Kopfkino anknipsen. Oder wir sitzen am Meer, schauen auf die Wellen, driften mit unseren Gedanken ab. Da schwelgen wir in Erinnerungen, schmücken sie aus, erfinden Geschichten komplett neu, nehmen spielerisch Handlungen vorweg oder malen uns bevorstehende Situationen aus – die Hochzeit, den Umzug in eine neue Wohnung, das Bewerbungsgespräch für einen Job.

Die besten Ideen kommen oft, wenn man nicht damit rechnet, nicht darauf abzielt. Ein Klassiker ist der Aha-Effekt unter der Dusche mit dem Ausruf: „Dass ich darauf nicht eher gekommen bin!“ Eigentlich ist das gar nicht so überraschend, denn wenn wir angestrengt an etwas denken, greift unser Gehirn auf jene Muster zurück, die am leichtesten abrufbar sind, weil sie bislang erfolgreich waren.

Tagträume fördern die Gesundheit

Für den Psychologen und Buchautor Heiko Ernst entsprechen Tagträume dem Drücken der Pause-Taste, sind eine wohltuende, kleine Auszeit im Alltag: „Man fantasiert von Reisen, von schönen Abenden, man malt sich das aus und mobilisiert dann auch die Energie dafür. Tagträume sind sozusagen die Blaupausen, wie unser Leben sein könnte. Und wir merken oft schon sehr genau, was davon machbar ist und was nicht. Menschen, die gut tagträumen können, sind meistens besser für die Realität gewappnet, denn sie haben bestimmte Situationen schon mal durchgespielt.“ Und das Grandiose: Als Tagträumer sind wir alles in Personalunion – Regisseur, Hauptdarsteller und Zuschauer. Ob wir uns Situationen real und detailliert vorstellen oder in Luftschlössern schweben, hängt von unserer Persönlichkeit ab, auch von unseren Emotionen, Erfahrungen und unserem Wissen. Es lohnt sich, Tagträume zu entschlüsseln, um eigene Wünsche und Ziele besser kennenzulernen.

Um diesen auf die Spur zu kommen, empfiehlt Heiko Ernst, sich einmal folgende Fragen zu beantworten:

  • Wo und unter welchen Umständen findet mein Tagtraum statt?
  • Was ging ihm unmittelbar voraus?
  • Wie fühle ich mich während des Tagtraums?
  • Welche Geschichten erzähle ich mir?
  • Gibt es immer wiederkehrende Motive und Orte in diesen Geschichten?
  • Warum erzähle ich mir eine bestimmte Geschichte und warum gerade jetzt?

Für den Psychologen sind Tagträume wichtig für die emotionale Selbstregulierung in Lebenssituationen, die wir im Augenblick noch nicht verändern können. „Wenn man traurig ist, weil man sich zum Beispiel mit einem Freund zerstritten hat, kann man sich trösten, indem man in schönen Erinnerungen schwelgt. Wenn man auf jemanden böse ist, kann man demjenigen in Gedanken mal ordentlich die Meinung sagen. In seiner Fantasie kann man sich sogar rächen, ohne Angst haben zu müssen, dafür bestraft zu werden. Manchmal hat man seinen Ärger darüber dann schon ein bisschen verloren.“

Auch im Coaching werden Tagträume genutzt. „Tagträume können im Coaching einen anderen, spielerischen Blickwinkel eröffnen“, so Prof. Dr. Thomas Kretschmar, Leiter des Mind Institute in Berlin und ebenfalls Buchautor. „Wenn ich lediglich frage: ‚Was wollen Sie erreichen, welche Schritte wollen Sie sich vornehmen, welche Stärken können Sie nutzen?‘, würde ich allenfalls ein Problem logisch durchkonstruieren. Wenn ich aber sage: ‚Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich einen Berg vor. Wie sieht der Berg aus? Was wollen Sie tun?‘, dann erarbeiten wir uns einen Zugang zu teils nicht bewussten Anteilen der Thematik. In den inneren Bildern zeigen sich tiefer verborgene Wünsche und Ängste, die die Erfüllbarkeit von Zielen maßgeblich beeinflussen. Es zeigt, wie jemand mit sich selbst umgeht: Kann er eine Pause beim Aufstieg einlegen? Kann er die Aussicht genießen? Hat er Schwierigkeiten mit dem Abstieg? Man lernt sich dadurch besser kennen und verstehen.“ Das vorgestellte, virtuelle Bergsteigen spiegelt oftmals wider, wie man Herausforderungen im Leben meistert und zwischen Anspannung und Entspannung wechselt.

Tagträumen lässt sich trainieren

Damit sich das Fenster zu unserer Seele öffnet, muss das Außen für eine Weile ausgeblendet werden. Smartphones und Tablets lassen innere Bilder nicht hochkommen, deshalb ist es unerlässlich, diese von Zeit zu Zeit zur Seite zu legen. Doch das allein genügt nicht. Um herauszufinden, wie man sich selbst auf die innere Reise begibt, muss man experimentieren und kann sich da einiges von Experten abschauen. Zum Beispiel von Astronauten. Scott Kelly, der fast ein Jahr auf der Internationalen Raumstation ISS verbrachte, musste sich wie all seine Berufskolleginnen und -kollegen außerordentlich gut auf seinen Einsatz vorbereiten, nicht nur technisch, sondern auch mental. Dazu gehört, vieles gedanklich vorwegzunehmen und Situationen durchzuspielen, die auftreten können, aber auch vorzufühlen, wie es einem im Kosmos ergehen wird. Für Kelly war es unerlässlich, feste Pausen in seinen strukturierten Zeitplan einzubauen, um auch das zu tun, was ihm neben der Arbeit Freude bereitet. So liebte er es, im All die Serien „Game of Thrones“ zu schauen, mittels MP3-Player Vogelgezwitscher zu lauschen und in seiner Fantasie im Wald zu spazieren.

Eine effektive Methode zur Vorbereitung auf bestimmte Situationen ist das Mentale Training, das ursprünglich aus der Sportpsychologie kommt. Dabei werden bestimmte Situationen und Handlungsabläufe visualisiert, man versetzt sich in einen Bewegungsablauf hinein, ohne die Handlung aktiv auszuführen. Nicht nur Sportler, auch Schauspieler oder Politiker nutzen die Kraft dieser Imagination, um sich bevorstehende, herausfordernde Ereignisse vorzustellen und die optimierte Version so lange vor dem inneren Auge ablaufen zu lassen, bis sie einem vertraut erscheint. So stimmt man sich auf einen erfolgreichen Ablauf ein.

Für den Sportwissenschaftler und Skilehrer Carsten Bartel ist das Mentale Training eine Basis, um gesteckte Ziele zu erreichen: „Wer zum Beispiel einen Marathon bewältigen will, muss eine lange, schwierige Vorbereitungsphase durchlaufen, auch mit Phasen nachlassender oder sehr geringer Motivation. Da hilft es, sich sein Ziel immer wieder vor Augen zu halten, gedanklich in die Stimmung einzutauchen, am Start, auf der Strecke und beim Zieldurchlauf.“ Wer hart trainiert, darf aber auch eines nicht vergessen: die Regeneration. „Ein Bestandteil des Regenerationsmanagements ist übrigens ausreichender Schlaf“, so Bartels. „Eine Sportlerin oder ein Sportler sollte nie weniger als sieben Stunden schlafen. Und auch tagsüber muss es Zeiten geben, um die Seele baumeln zu lassen.“

Regeneration ist wichtig, aber es gibt noch weitere Aspekte. „Um sein Bestes zu geben, braucht es Vertrauen im Team, gute soziale Beziehungen und zusätzliche Reize, um Motivation und Leistung zu verbessern“, sagt Helmar Gröbel, ehemaliger Bundestrainer der Nationalmannschaft Eisschnelllauf. „Für Eisschnellläufer heißt das unter anderem Radfahren und Inlineskaten, denn einseitige Belastungen sind im Sport und generell im Leben destruktiv.“ Auch für Helmar Gröbel gehört es zur geistigen Entspannung, Tagträume auf Reisen zu schicken. Früher war es der Erfolg als Trainer, heute ist es die Weltreise per Schiff.

Übrigens, Heiko Ernst ist der Auffassung, dass wir gar nicht zu viel tagträumen können. Unser Alltag ist ohnehin voll mit Aufgaben und Erledigungen – umso wichtiger ist es, sich immer wieder in diesen wohligen Zustand der Entspannung zu begeben.