GesundesWissen

„Patientenwürde ist nichts Abstraktes“

Schwerkranke und pflegebedürftige Menschen sind auf Unterstützung angewiesen. Und sie haben wie alle ein Anrecht darauf, dass ihre Würde gewahrt wird. Wir sprachen mit Antje Gasparini, Psychologin auf der Palliativstation in den Helios Dr. Horst Schmidt Kliniken in Wiesbaden, über Patientenwürde im Klinikalltag.

BKKiNFORM: Frau Gasparini, was versteht man unter dem Begriff Patientenwürde und warum ist sie in der medizinischen Versorgung so wichtig?

Antje Gasparini: Patientenwürde beschreibt das Gefühl, als Mensch mit unverlierbarem Wert anerkannt und respektiert zu werden – unabhängig von Krankheit, Hilfsbedürftigkeit oder Prognose. Gerade in der Palliativmedizin, in der Heilung nicht mehr möglich ist, rückt das „Wie“ der Behandlung in den Fokus: Wie wird jemand begleitet, wie wird kommuniziert, wie wird das Menschsein geschützt. Der Psychiater Harvey Max Chochinov hat mit seinem Dignity Model ein praxisnahes Instrument geschaffen, um Würde nicht nur zu schützen, sondern auch therapeutisch zu fördern. Es zeigt, dass Würde kein abstrakter Begriff ist, sondern konkret beeinflussbar. Studien haben ergeben, dass Patientinnen und Patienten mit einem hohen Würdeempfinden seltener unter depressiven Symptomen leiden, mehr Vertrauen in das Behandlungsteam zeigen und insgesamt eine höhere Lebensqualität haben – selbst im Sterbeprozess.

Wie kann das medizinische Personal konkret die Würde der Patientinnen und Patienten schützen?

Antje Gasparini: Das beginnt mit der Haltung: Jeder Mensch verdient Respekt – unabhängig von seiner kognitiven oder körperlichen Verfassung. Konkret heißt das: Wir kommunizieren respektvoll, sprechen Patientinnen immer mit Namen an, erklären jede unserer Handlungen und achten auf nonverbale Signale. Wir beziehen Patienten in Entscheidungen mit ein, selbst kleine Wahlmöglichkeiten wie die Entscheidung, was man essen möchte, geben ein Gefühl von Kontrolle zurück. Wir wahren die Intimsphäre und achten auf Sichtschutz, angemessene Kleidung und Körperpflege in Würde – kleine Gesten haben hier oft eine große Wirkung. Wir führen Gespräche über würdevolles Miteinander und fragen zum Beispiel: „Was möchten Sie, dass Ihre Familie über Sie weiß?“ Solche Fragen stärken die Identität und vermitteln Sinn. Und wir arbeiten interdisziplinär zusammen: Würde ist nicht Aufgabe der Pflege allein, sondern betrifft alle: Ärztinnen und Ärzte, die Seelsorge, Sozialarbeit und Psychologie.

Wie können Angehörige und Begleitpersonen dazu beitragen, die Patientenwürde zu wahren?

Antje Gasparini: Angehörige sind oft emotionale Anker. Sie kennen Biografie, Werte und Wünsche der Patientinnen und können diese in die Betreuung einbringen – gerade, wenn die Betroffenen selbst nicht mehr kommunizieren können. Hilfreich sind hier ein achtsames Verhalten – Blickkontakt, Berührung, ruhige Anwesenheit, auch nonverbal lässt sich Nähe ausdrücken – und der Schutz der Privatsphäre. Zum Beispiel sollte gefragt werden, bevor im Zimmer Fotos gemacht oder Gespräche geführt werden. Angehörige können helfen, den Menschen hinter der Krankheit zu zeigen, und biografische Hinweise geben: „Sie hat immer gerne gesungen“, „er war ein ruhiger Beobachter“. Bei Patienten, die an Aphasie oder Demenz leiden, können sie unterstützen und nonverbale Zeichen deuten.

Chochinov betont in seinem Modell die Rolle des sozialen Umfelds. Wenn Patienten erleben, dass sie weiterhin geliebt, gebraucht und ernst genommen werden, stärkt das Würde und Lebensmut.

Was können Patienten selbst tun, um ihre eigene Würde im Krankheitsfall zu bewahren und sich aktiv in die Behandlung einzubringen?

Antje Gasparini: Würde kann auch aus dem Inneren kommen – durch Selbstfürsorge, das Benennen von Bedürfnissen und Wünschen und durch persönliche Rituale wie Musik hören, Fotos betrachten oder Gebete sprechen. Auch in schweren Krankheitsphasen ist Autonomie möglich, etwa indem man seine eigenen Werte benennt und sagt, was einem wichtig ist, was bleiben soll und was gehen darf. Und auch die rechtliche Vorsorge durch eine Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht ist Ausdruck von Selbstbestimmung.

Welche besonderen Herausforderungen gibt es beim Schutz der Würde bei besonders schutzbedürftigen Gruppen wie Kindern, älteren Menschen oder Demenzkranken?

Antje Gasparini: Diese Gruppen sind in doppelter Weise gefährdet: Sie sind oft abhängig und sie haben eingeschränkte Möglichkeiten, sich verbal zu wehren. Daher braucht es hier besondere Sensibilität. Bei Patienten mit kognitiven Einschränkungen beispielsweise helfen Routinen, vertraute Stimmen, Gegenstände, Gerüche – Identität wird über die Sinne gestützt. Das Würde-Modell von Chochinov ist auch hier anwendbar durch Beobachtung, Biografiearbeit und Bezugspersonen, die als „Stimme der Würde“ agieren.

Welche gesetzlichen Regelungen und Richtlinien existieren in Deutschland, um die Würde der Patienten zu schützen?

Antje Gasparini: In Deutschland ist die Menschenwürde als oberster Wert im Grundgesetz Artikel 1 verankert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Weitere wichtige Regelungen sind das Patientenrechtegesetz (Recht auf Information, Einwilligung, Dokumentation und Selbstbestimmung), die Datenschutzgrundverordnung (Schutz sensibler Gesundheitsdaten), das Betreuungsrecht (Unterstützung bei Entscheidungsfindung bei eingeschränkter Entscheidungsfähigkeit), die Ethik-Richtlinien (Leitsätze zur Behandlung am Lebensende) und die Charta zur Betreuung schwerstkranker Menschen (bundesweite Empfehlungen zur palliativen Versorgung). Diese rechtlichen Rahmenbedingungen geben nicht nur Schutz, sondern sind auch Arbeitsauftrag für uns als Behandelnde

Wie kann die Gesellschaft insgesamt dazu beitragen, das Bewusstsein für die Bedeutung der Patientenwürde zu stärken?

Antje Gasparini: Würde beginnt nicht erst im Krankenhaus. Sie ist ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag. Aufklärungskampagnen wie „Letzte Hilfe“-Kurse, die Präsenz in Medien und Bildung und auch Initiativen wie die Hospizbewegung helfen, das Thema Menschenwürde auf gesellschaftlicher Ebene zu gestalten. Insbesondere die Ethik- und Wertebildung in Schulen ist wichtig, um Menschenwürde als Grundwert in der Gesellschaft zu verankern. Eine Aufwertung der Pflege als Beruf trägt dazu bei, die Patientenwürde noch besser zu schützen. Und: Barrieren für Menschen mit Behinderung, Demenz, chronischen Erkrankungen abbauen, in Sprache, Strukturen und Köpfen. Würde ist nichts Abstraktes – sondern eine Haltung, die jeder Mensch verdient. Von Anfang bis Ende.

Frau Gasparini, vielen Dank für das Gespräch!