GesundesWissen
Mit achtsamer Fotografie zu innerer Ruhe
Fotografieren weitet nicht nur den Blick und fördert die Aufmerksamkeit. Es kann sich auch beruhigend und heilsam auf den Geist auswirken. Ein Gespräch mit dem Psychologen und Fotografen Prof. Dr. Sven Barnow. Von Birgit Weidt
Herr Professor Barnow, welche Bedeutung haben eigene Bilder in einer von visuellen Reizen überfluteten Welt?
Prof. Dr. Sven Barnow: Eigene Bilder erzählen persönliche Geschichten. Sie ermöglichen uns, Momente, Orte oder Erlebnisse bildlich festzuhalten und in die Vergangenheit zurückzukehren. Wir erinnern uns beispielsweise an einen besonders schönen Urlaub oder auch an eine schwierige Zeit. Eigene Bilder können Emotionen auslösen, vor allem, wenn sie eine persönliche Bedeutung für uns haben. Denken wir nur an Familienbilder. Wenn ich das Foto betrachte, das ich 2014 bei der Feier zum 70. Geburtstag meiner Mutter aufgenommen habe, dann ist da ein einzigartiger Moment festgehalten. Einige auf dem Bild sind inzwischen verstorben, andere haben sich aus der Gemeinschaft gelöst, um neue Wege zu gehen. Die Gesichter der meisten sehen ausgelassen und fröhlich aus. Das zu betrachten kann schön und schmerzlich zugleich sein. Es ist ein Augenblick, der niemals so zurückkehren wird.
Was macht für Sie ein gutes Foto aus?
Prof. Dr. Sven Barnow: Aus der Perspektive einer achtsamen Fotografie kann ich, bildlich gesprochen, ein Gefühl in meine Kamera hineinbringen und dann schauen, was sich daraus entwickelt. Vielleicht fotografiere ich verschneite Bäume an einem ruhigen Wintertag, weil ich mich nach Ruhe sehne, oder ich richte meinen Fokus auf das Gewimmel in der Stadt, weil mir gerade Trubel guttut. In diesem Moment geht es nicht darum, ein perfektes Bild zu machen, sondern ein Gefühl auszudrücken, das ich genau in diesem Moment verspüre. Dies sind ganz private Momente des In-Sich-Versunkenseins und sie müssen keinen Wert für andere haben. Wenn wir achtsam fotografieren, drücken wir aus, was uns bewegt, wir fotografieren ruhig, entspannen uns, lassen uns Zeit für das Bild und seine Komposition. Wir beobachten, wie sich das Betrachtete ändert, während wir die Position wechseln, vielleicht auch, wie unterschiedlich sich das Licht entfaltet, Strukturen deutlich werden, die eben noch unsichtbar waren. Wir drücken auf den Auslöser und der ganze Prozess erdet uns.
Sie plädieren für ein Fotografieren frei von Bewertungen und ohne Ergebnisorientierung?
Prof. Dr. Sven Barnow:Genau, wenn wir das Ziel verfolgen, ein Foto zu erstellen, welches wir ausstellen oder in den sozialen Medien hochladen möchten, ändert sich unsere Motivation. Da geht es uns weniger darum, etwas von uns auszudrücken, sondern etwas auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu zeigen. Wir haben unsere „Zielgruppe“ bereits vor Augen, wenn wir auf den Auslöser drücken, und fragen uns vielleicht, was dieses Foto bei anderen bewirken wird. Wir sind also ergebnisorientiert beziehungsweise im Tun-Modus, wie wir in der achtsamkeitsbasierten Therapie sagen. Der Tun-Modus ist durchaus hilfreich, wenn wir äußere Dinge klären oder organisieren müssen. Allerdings können wir unsere Innenwelt nicht immer durch äußere Lösungen in Ordnung bringen. Hierbei ist es besser, die Innenwelt erst einmal zu betrachten, ohne zu bewerten oder gleich eine Lösung parat haben zu müssen.
Worum geht es bei der achtsamen Fotografie?
Prof. Dr. Sven Barnow:Da geht es unter anderem darum, was ein Bild in mir bewirkt oder über mich aussagt. Ich habe oft erlebt, wie sehr mich das Fotografieren in diesem Sein-Modus – ohne Ergebnisorientierung – beruhigt, mir dazu verhilft, etwas Inneres nach außen zu bringen. Das bedeutet nicht, dass die ergebnisorientierte Fotografie schlecht wäre, keineswegs, sie hat nur ein anderes Ziel. Sie sagt weniger über die Fotografin aus, sie will andere bewegen anstatt sich selbst. Tätigkeiten, die nicht unmittelbar ergebnis- oder projektorientiert sind, hat der Philosoph Kieran Setiya als „atelic“ bezeichnet. „Telic“ kommt vom griechischen „telos“ und meint: etwas zu Ende führen. Mit anderen Worten, der fotografische Prozess, wie ich ihn gerade beschrieben habe, ist „atelic“, er ist der Anfang von etwas und nicht das Ende. Das kann sehr befreiend sein, wenn wir uns von Bewertungen und einer Ergebnisorientierung für eine Weile lösen.
Sie sagen, die Kamera könne auch ein Instrument zur Emotionsregulierung sein. Wie das?
Prof. Dr. Sven Barnow: Während wir fotografieren, spielt es beispielsweise keine Rolle, wie unsere momentane Lebenssituation ist, ob wir glücklich oder unglücklich sind, reich oder arm, gesund oder krank. Wir fotografieren einfach. So wird der fotografische Prozess zu einer achtsamen Handlung, während der wir Vergangenheit und Zukunft ausblenden. Er kann als emotionales Tagebuch dienen. Wenn wir uns entwurzelt fühlen, können wir vielleicht die Strukturen der Wurzeln von Bäumen fotografieren und die Fähigkeit bewundern, wie diese den Baum bei Sturm und Unwetter vor der Entwurzelung schützen. Vielleicht wird uns in diesem Moment bewusst, dass wir diese Wurzeln in uns selbst vernachlässigt haben. So kann uns – während wir achtsam fotografieren – ein emotionales Thema deutlich werden und wir können die Kamera als Instrument zur Gefühlsregulierung nutzen.
Wie kann uns Fotografieren psychisch beruhigen?
Prof. Dr. Sven Barnow: Anstatt im Autopiloten durch die Gegend zu laufen, laut redend und unachtsam, verlangsamen wir uns, intensivieren unsere Wahrnehmung, hören, riechen, sehen, fühlen unsere Umgebung. Dabei ist es nicht so wichtig, ob wir in der Natur sind oder in der Stadt, es ist auch nicht entscheidend, was wir fotografieren, sondern wie wir es tun. Nehmen wir einmal an, wir möchten ein Porträt einer Freundin machen. Dann könnten wir achtlos sagen "lächle doch mal" und auf den Auslöser drücken. Wir könnten uns jedoch auch fragen, was sie gern tut, und sie bitten, sie dabei fotografieren zu dürfen. Damit schaffen wir eine Verbindung zu ihr und zwingen sie nicht, zum Beispiel künstlich zu lächeln. Gleichzeitig vertiefen wir damit unsere Freundschaften, denn die anderen bemerken, dass wir uns mit ihnen auseinandersetzen. Wir fühlen uns stärker mit ihnen verbunden und möglicherweise weniger einsam. Wenn sich dabei unser Geist beruhigt, erleben wir den fotografischen Prozess an sich auch intensiver.
Können eigene Fotos in schweren Zeiten Halt geben?
Prof. Dr. Sven Barnow: Probleme wie die Klimaveränderung, die sich zunehmend aufheizende geopolitische Lage, die Energiekrise, weitere potenzielle Pandemien bewegen uns und führen häufig zu Verunsicherung. Da wäre es ein übertriebener Anspruch zu erwarten, dass uns die achtsame Fotografie helfen kann, die damit einhergehenden Gefühle zu lösen. Nichtsdestoweniger können uns eigene Fotos Halt geben, wenn wir sehen, dass etwas stabil ist, dass wir nicht allein sind und Schönheit noch immer existiert. Ich habe mir eine große Fotowand in meinem Arbeitszimmer gestaltet, auf der viele Erlebnisse, Reisen und Porträts von Freunden zu sehen sind, die mein Leben einzigartig machen. Wenn ich das Gefühl habe, dass alles sinnlos und schwer zu ertragen ist, betrachte ich diese Fotowand und reflektiere, mit wie vielen Menschen ich verbunden bin und war, welche einzigartigen Erlebnisse ich erleben durfte und dass mein Ego durch diese Erlebnisse mit geformt wurde. Das relativiert oftmals eine zu pessimistische Sichtweise, und ich kann die Welt und mein Leben wieder aus einer optimistischeren Perspektive der Verbundenheit betrachten und neu bewerten. Die Technik der Neubewertung ist übrigens eine der wirksamsten Strategien zur Gefühlsregulierung.
Wie können wir beim Fotografieren am besten vorgehen, was empfehlen Sie?
Prof. Dr. Sven Barnow: Ich empfehle, den Prozess des Fotografierens zu verlangsamen, sich Zeit zu lassen, die Dinge auf sich zukommen und wirken zu lassen, auf das Innere zu hören und es auszudrücken. Auch die Perspektive zu wechseln, das Licht genauer zu betrachten und sich zu fragen: Warum fotografiere ich? Was will ich damit ausdrücken? Nicht einfach losknipsen – und die Bilder nicht gleich anschauen und bewerten, ebenso, die Aufnahmen nicht sofort in den sozialen Medien hochladen beziehungsweise erst nach einer gewissen Zeit. Außerdem ist es ratsam, den fotografischen Prozess bewusst zu gestalten und sich weniger um die Technik der Kamera zu kümmern. Ich empfehle, weniger Bilder zu machen und einige davon später auszudrucken. Die kann man dann genussvoll betrachten und möglicherweise an einer Fotowand anbringen. Fotografieren für sich selbst und nicht, damit es anderen gefällt.
Was verraten meine Fotos über mich?
Prof. Dr. Sven Barnow: Ein Beispiel: Ich behandelte vor geraumer Zeit einen Patienten mit ausgeprägter Antriebslosigkeit und Niedergeschlagenheit. Er war leidenschaftlicher Hobby-Fotograf, deshalb bat ich ihn, einige Fotografien mit in die Sitzung zu bringen. Die einzige Bedingung war, er sollte die Bilder ausdrucken und es durften nicht mehr als zehn für ihn wichtige sein. In der nächsten Sitzung legten wir die Fotografien auf dem Tisch aus. Darauf zu sehen waren ausschließlich sogenannte „Lost Places“, die er gekonnt fotografiert hatte. Nicht immer ist der Bezug zur eigenen Verfassung so deutlich, doch in diesem Fall war sein Problem recht klar: Er fühlte sich verloren, einsam und sinnentleert, er war im Grunde selbst so ein verlorener Ort. Die Fotos spiegelten das wider und ermöglichten gleichzeitig, etwas nach außen zu bringen, was er innerlich schmerzlich erlebte. Als wir dies besprachen, zeigte er zum ersten Mal ein Gefühl der Traurigkeit. Danach ging es bergauf mit ihm. Seine Fotos waren der erste Schritt, seine Gefühle, seine innerliche Verlorenheit zu zeigen.
Prof. Dr. Sven Barnow
Sven Barnow leitet den Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg. Sein Team und er beschäftigen sich seit vielen Jahren mit der Bedeutung der Emotionsregulation für psychische Gesundheit. Er ist zudem Buchautor und leidenschaftlicher Hobby-Fotograf.