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„Niemand muss sich vor dem Sterben fürchten“

Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung decken den gesamten Lebenszyklus ab: von Schwangerschaft und Geburt bis zum Tod. In der letzten Lebensphase versorgen und begleiten speziell ausgebildete Medizinerinnen, Pflegekräfte, Psychologen, Seelsorgerinnen und viele andere die zumeist schwerstkranken Menschen. Über die medizinische Versorgung am Ende des Lebens sprachen wir mit Dr. Kristina Kaevel, Leiterin der Palliativstation an den Helios Dr. Horst Schmidt Kliniken (HSK) in Wiesbaden.

BKKiNFORM: Frau Dr. Kaevel, die Palliativmedizin kümmert sich um schwerstkranke Menschen, für die es keine Aussicht auf Heilung mehr gibt. Wie werden Patienten auf Ihrer Station behandelt?

Dr. Kristina Kaevel: Eine Palliativstation ist eine Station in einem Krankenhaus, auf der Patientinnen und Patienten behandelt werden, die an einer unheilbaren und lebensverkürzenden Krankheit leiden. Unsere Aufgabe ist es, die Patienten über eine gute Symptomkontrolle im Rahmen ihrer fortschreitenden Erkrankung körperlich und psychisch zu stabilisieren. Das Ziel aller auf der Palliativstation Tätigen – das sind unsere Pflegekräfte, Psychologinnen und Ärzte, aber auch Seelsorger, Ehrenamtliche und therapeutische Kräfte – ist, dass die Patienten unsere Station wieder verlassen können, um zu Hause, in einem Pflegeheim oder Hospiz weiterversorgt und begleitet zu werden. Je nach dem, was das Beste für die Patientin oder den Patienten ist. Ist die Krankheit schon sehr weit fortgeschritten und ein nahes Ende absehbar, begleiten wir unsere Patienten auch bis zum Lebensende. Eine weitere wichtige Aufgabe ist die Unterstützung der Angehörigen.

Wie unterstützen Sie Angehörige?

Dr. Kristina Kaevel: Wir erleben häufig, dass diese mit der Situation überfordert sind. Wir holen sie dann dort ab, wo sie stehen, erklären ihnen die Situation und die weiteren Schritte. Wenn wir für die Patienten eine gute Symptomkontrolle erreicht haben, besprechen wir – die zuständigen Ärzte, Pflegekräfte und die begleitende Psychologin – mit ihnen und ihren Angehörigen, wie es weitergehen kann. Wir reden dann auch, wenn erforderlich, über die Sorgen der Angehörigen, ob und wie sie eine Pflege zu Hause sicherstellen können. Kann der Patient zum Beispiel wieder alleine aufstehen, auf die Toilette gehen und sich in einen Sessel setzen, braucht aber Hilfe beim Anziehen und Waschen? Dann würden wir darüber sprechen, welche Möglichkeiten es in dieser Situation gibt und was sich der Patient wünscht. Also zum Beispiel die Rückkehr in den eigenen Haushalt mit Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes und des ambulanten Palliativteams. Ist eine Versorgung zu Hause nicht möglich, überlegen wir, ob die Unterbringung in einem Pflegeheim oder in einem Hospiz angezeigt ist. Wäre es so, dass die Lebenserwartung wenige Monate beträgt, würden wir in der Regel ein Hospiz empfehlen. Ist die Krankheit bereits so weit fortgeschritten, dass eine nahe Sterbephase abzusehen ist, begleiten wir den Patienten auf der Palliativstation bis zu seinem Lebensende. Eine Palliativstation ist also keine Station, wo nur gestorben wird. Und ganz wichtig: Welche Entscheidung wir auch immer treffen, wir treffen sie gemeinsam mit den Patienten und Angehörigen.

Worin unterscheiden sich Hospiz und Palliativstation?

Dr. Kristina Kaevel: Die moderne Hospizbewegung entstand vor über 50 Jahren mit dem Ziel, Menschen, die an einer fortschreitenden tödlichen Erkrankung leiden, in ihrer Sterbephase menschlich und therapeutisch gut zu begleiten, alle ihre Nöte wahrzunehmen und ihnen so gut wie möglich beim Sterben zu helfen. Während auf einer Palliativstation ja oft auch noch die medizinischen Probleme im Vordergrund stehen, liegt der Schwerpunkt in einem Hospiz in der pflegerischen und psychosozialen Betreuung. Hier befinden sich die Menschen in Pflegeeinrichtungen, in denen unheilbar Kranke die Zeit bis zu ihrem Lebensende verbringen können. Und wie auf einer Palliativstation werden auch hier Angehörige und Freunde in die Begleitung einbezogen und vom Team unterstützt.

Mit welchen Symptomen kommen Patienten auf Ihre Station?

Dr. Kristina Kaevel: Schmerzen sind ein häufiges Symptom. Denn viele Tumorerkrankungen können Veränderungen im Körper auslösen, die oft starke Schmerzen verursachen. Aber wir behandeln auch Luftnot, Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit, Schwindel, Ängste und Sorgen, Unruhe und Schlafstörungen. Wenn jemand auf die Station kommt und unter einer maximalen Symptomlast leidet, dann geht es erst mal nur darum, wie wir die Patientin oder den Patienten möglichst schnell aus dieser aktuellen Stresssituation herausbekommen. Denn wenn jemand sehr starke Schmerzen hat, dann hat er für nichts anderes einen Sinn. Wir behandeln daher die Symptome zuerst, die die Patientin oder der Patient als besonders schlimm empfindet. Wenn wir die Symptomlast gesenkt und eine Verbesserung erreicht haben, können sich die Menschen auch wieder für andere Themen öffnen.

Kann eine solche Symptomkontrolle nicht auch auf jeder anderen Station im Krankenhaus vorgenommen werden?

Dr. Kristina Kaevel: Natürlich ist eine gute Schmerztherapie oder die Therapie anderer Symptome auch auf anderen Stationen möglich, aber wir haben auf der Palliativstation viel mehr Möglichkeiten, auf die Menschen einzugehen. Wir blicken hier nicht nur aus medizinischer Sicht auf sie, sondern aus ganzheitlicher. Für uns als Palliativstation ist es daher ganz besonders wichtig, dass wir in einem Team arbeiten. Wir profitieren davon, dass wir nicht nur Ärzte und Pflegekräfte haben, sondern auch Psychologen, Physiotherapeuten und Seelsorger. Wir haben sogar Therapiehunde, die regelmäßig unsere Station und jeden Patienten, der sie gerne sehen und streicheln möchte, besuchen. Und jeder von uns nimmt unsere Patienten auf seine ganz eigene Weise wahr, die er in unseren regelmäßigen Besprechungen den anderen mitteilt, was dazu beiträgt, die Wahrnehmung aller Aspekte der Patienten zu optimieren.

Die Therapiehunde Sissi und Helga besuchen regelmäßig die Patientinnen und Patienten auf der Palliativstation der HSK und fühlen sich auch im Gemeischaftsraum bei den Zierfischen pudelwohl.

Wenn sich die Symptome der Patienten gebessert haben, wie geht es dann weiter?

Dr. Kristina Kaevel: Dann können Themen zutage treten, die so vielfältig sind, wie das menschliche Leben selbst. Im Vordergrund stehen natürlich Gedanken, die mit der Erkrankung zu tun haben. Wie viel Zeit bleibt mir noch? Kann ich das Krankenhaus noch mal verlassen? Was passiert mit meinen Angehörigen, wenn ich nicht mehr da bin? Dann erklären wir, welche unterstützenden Angebote es am Wohnort des Partners gibt. Bei jüngeren Patienten, die in der Arbeitswelt waren und deren Einkommen für den Familienunterhalt weggefallen ist, gibt es ganz handfeste finanzielle Sorgen: "Wie soll es mit meiner Familie weitergehen?" In den HSK haben wir einen sehr guten Sozialdienst, der in solchen Fällen berät, welche Unterstützungsmöglichkeiten es gibt, und den Kontakt zu den zuständigen Stellen der Stadt Wiesbaden, aber auch anderswo herstellt. Es kommt auch vor, dass jemand, der noch kein Testament gemacht hat, das gerne nachholen möchte. Dann kann ein Notar bestellt werden, der ins Krankenhaus kommt und mit dem Patienten gemeinsam ein Testament erarbeitet. Es gibt also ganz viel, was an dringlichen und zu klärenden Problemen auftauchen kann und wobei wir helfen, damit unsere Patienten weniger Sorgen haben.

Wie hat Sie Ihre Arbeit auf der Palliativstation verändert?

Dr. Kristina Kaevel: Seitdem ich hier arbeite, ist es schon so, dass ich versuche, das Leben noch mal bewusster wahrzunehmen. Ich nehme mir im manchmal hektischen Alltag die Muße und Zeit dafür, Situationen auch mal aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Oft geht es dabei um scheinbar banale Alltagsdinge und Kleinigkeiten, die ich dann mehr zu schätzen weiß, weil sie ganz viel mit dem Leben zu tun haben.

Und denken Sie inzwischen auch anders über das Sterben?

Dr. Kristina Kaevel: Ja. Ich denke heute, dass man keine Angst vorm Sterben haben muss. Das Leben endet nun mal mit dem Tod. Das können wir nicht ändern. Aber eigentlich muss sich niemand vor dem Sterben fürchten. Und ich schätze meine Arbeit mit den Menschen. Ihre Geschichte und Persönlichkeit kennenzulernen bereitet mir große Freude. Die Menschen hier so zu erleben, wie sie sind. Wir alle im Team sind ganz normale Menschen – wir lachen, wir erzählen Witze, wir machen auch mal dumme Sprüche und weinen auch manchmal mit. Wir versuchen einfach, den Patienten als Mensch wahrzunehmen. Es geht nicht nur ums Sterben, es geht auch darum, Lebensqualität wiederzugewinnen.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Dr. Kaevel!