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Von Schlafwandlern und Klarträumern
Nacht für Nacht tauchen wir in eine fantastische Welt ein. Hirngespinste bevölkern unseren Schlaf und nehmen uns auf Geistreisen mit, die mal real, mal surreal anmuten. Wir werfen einen Blick darauf, wie die Forschung die Traumwelt deutet.
Lange Zeit waren viele Wissenschaftler der Ansicht, dass unsere nächtlichen Träume bedeutungslos und als biologischer Abfall zu betrachten seien. Zurückzuführen ist diese Überzeugung auf eine These des US-amerikanischen Schlafforschers Allan Hobson, der zufolge der mit dem Rückenmark verbundene Hirnstamm während des Schlafs nicht zur Ruhe kommt und willkürlich Nervensignale aussendet. Das für unser Bewusstsein und unseren Verstand zuständige Großhirn setze diese Signale dann in rein zufällige Bilder um.
Mittlerweile haben Neurobiologen jedoch herausgefunden, dass Träume nicht im Hirnstamm, sondern in jenen Gehirnregionen entstehen, die auch tagsüber an bewussten Vorgängen beteiligt sind. Allerdings herrscht immer noch Uneinigkeit darüber, warum Menschen und viele Tiere träumen. Ein Großteil der Forscher geht jedoch davon aus, dass Träume eine wichtige Funktion erfüllen. Zahlreiche Studien haben ergeben, dass Träume dem Schlafenden dabei helfen, Erfahrungen und Erlebnisse zu verarbeiten, und Lernprozesse unterstützen. Wer zum Beispiel für Schule oder Studium büffelt, kann sich nach einem erholsamen Schlaf besser an das Gelernte erinnern als diejenigen, die ohne Unterbrechung pauken. Noch stärker profitieren jene, die sogar von den Lerninhalten träumen – das Erinnerungsvermögen ist in diesen Fällen noch ausgeprägter.
Auf der anderen Seite verarbeiten wir in Träumen auch unsere Gefühle. So treffen wir in unseren nächtlichen Phantasiewelten besonders auf jene Menschen, Tiere, Orte und Situationen, die uns auch tagsüber emotional beschäftigen. Das kann sich in vielen Fällen gut, in einigen Fällen negativ auswirken. Denn unser Gehirn nutzt den Schlaf nicht nur, um etwa Schulwissen zu verfestigen, sondern auch, um emotional belegte neue Erfahrungen im Langzeitgedächtnis abzuspeichern. So leitete der Wissenschaftler Yunzhe Liu von der Beijing Normal Universität aus einer seiner Studien ab, dass es traumatisierten Menschen schwer falle, entsprechende Erinnerungen zu verdrängen, wenn sie kurz nach den Erlebnissen schliefen. Liu ist der Ansicht, dass ein Schlafentzug unmittelbar nach traumatischen Erfahrungen womöglich verhindern könne, dass diese Erinnerungen sich dauerhaft im Gehirn verfestigen. Zumindest ist es sicherlich ratsam, sich kurz vor dem Zubettgehen nicht mit unangenehmen Erlebnissen zu beschäftigen, sondern sie während des Tages bewusst zu verarbeiten oder gegebenenfalls zu verdrängen.
Das Gehirn speichert im Schlaf nicht nur neue Erfahrungen ab, sondern es verändert sie im Traum und würfelt sie scheinbar spielerisch durcheinander. So werden gerne mal Personen und Orte kombiniert, die im Alltag nichts miteinander zu tun haben. Vergangenes wird mit aktuellen Ereignissen vermengt und teils filmreif inszeniert. Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass das Gehirn auf diese Weise neue Wege ausloten will, ungewohnte Zusammenhänge zu schaffen sucht, um auf kreative Art und Weise Lösungen für Probleme oder Herausforderungen zu finden.
Wann wir träumen
Alle gesunden Menschen (ohne bestimmte Hirnbeeinträchtigungen oder -verletzungen) träumen regelmäßig. Diejenigen, die glauben, es nicht zu tun, können sich lediglich nicht an ihre Träume erinnern. Denn um dieser gewahr zu werden, muss man mindestens drei Minuten wach gewesen sein. Wer also meint, nicht zu träumen, erfreut sich wahrscheinlich eines sehr tiefen Schlafs mit nur wenigen wachen Momenten in der Nacht.
Viele Jahre war man der Ansicht, dass Träume nur während der REM-Phase (engl., Rapid Eye Movement, dt., schnelle Augenbewegung) entstehen. In dieser Schlafphase, die sich während der Nacht vier bis fünf Mal wiederholt, bewegen sich die Augäpfel hinter geschlossenen Lidern unruhig hin und her, der Körper bleibt hingegen regungslos. Tatsächlich weiß man aber mittlerweile, dass wir auch in den übrigen Schlafstadien träumen, häufig sogar schon nach dem Einschlafen. Die Träume während dieser Phasen sind allerdings nicht so lebhaft, lang und phantastisch.
In der REM-Phase fühlen sich selbst bizarre Träume sehr echt an. Es sind dann besonders jene Bereiche des Großhirns aktiv, die mit visueller Wahrnehmung und Vorstellungskraft zu tun haben und sich auch im Wachzustand in Habachtstellung befinden. Auch das unbewusst arbeitende limbische System, das an der Entstehung und Kontrolle von Gefühlen beteiligt ist, läuft in der REM-Phase auf Hochtouren. Doch es gibt auch Unterschiede zwischen den Phasen des Wachens und Träumens: Während der REM-Phase ist der für Logik und Verstand zuständige präfrontale Cortex weniger aktiv. Deshalb wundern wir uns selbst über die absurdesten Traumsequenzen nicht im Mindesten und halten sie für real.
Warum wir im Schlaf wandeln
Manche Menschen werden nachts auf ungewöhnliche Weise aktiv: Sie wandeln im Schlaf umher und bringen mitunter sich selbst oder sogar ihre Mitmenschen in Gefahr. Schlafwandler, in früheren Zeiten auch als Mondsüchtige bezeichnet, geraten in einen Zwischenzustand, in dem sie weder richtig wach sind noch richtig schlafen. Ausgelöst wird dieser Zustand entweder durch eine Aufwachstörung oder durch eine REM-Schlaf-Verhaltensstörung. Bei der Aufwachstörung erwachen bestimmte Bereiche des Gehirns, während andere weiter ruhen. Von einer Aufwachstörung betroffene Schlafwandler wandern etwa durch die Wohnung, stellen Möbel um, sortieren Kleidung, essen unter Umständen ungenießbare Dinge oder verlassen gar das Haus. Es sind auch Fälle von gewalttätigem Verhalten bekannt. Die REM-Schlaf-Verhaltensstörung ist hingegen gekennzeichnet durch ungehemmte Bewegungen. Betroffene zucken oder schlagen häufig wild um sich, da sie sich von Angreifern bedroht wähnen.
Die meisten Schlafwandler leiden unter einer Aufwachstörung. Sie befinden sich im Tiefschlaf, und ihr Bewusstsein ist fast komplett heruntergefahren. Eine volle Blase, ein Geräusch, Licht oder ein anderer Reiz kann Teile des Gehirns aktivieren, die z. B. für Routinehandlungen zuständig sind. Da das Bewusstsein bei Schlafwandlern außer Kraft gesetzt ist, greifen die Automatismen, die auch tagsüber aktiv sind, und befähigen die Betroffenen zu ihren Handlungen. Gesichter erkennen Schlafwandler in der Regel nicht, Schmerzen vermögen sie normalerweise nicht aufzuwecken. Diese häufig bei Kindern vorkommende Schlafstörung wächst sich mit der Zeit und der vollen Entwicklung der Gehirnfunktionen meistens aus.
Menschen mit einer REM-Schlaf-Verhaltensstörung entwickeln diese in der Regel erst im mittleren Alter, mehrheitlich bei Männern. Sie geht vielfach einher mit einem fortschreitenden Abbau der Hirnsubstanz: Neurodegenerative Störungen wie Parkinson oder Demenz sind eine häufige Folge.
Warum wir uns im Schlaf gelähmt fühlen
Ein entsetzliches Gefühl der Ohnmacht breitet sich aus: Man wacht auf, ist unfähig, sich zu bewegen, und spürt voller Panik, wie sich eine finstere Gestalt dem Bett nähert. Dieses gruselige Phänomen trägt den wissenschaftlichen Namen „Schlafparalyse“. Es handelt sich ähnlich dem Schlafwandeln um einen Zwischenzustand – teilweise befindet sich der Betroffene noch im Reich der Träume, teilweise ist er bereits wach. Die Schlafparalyse oder Schlaflähmung tritt allerdings in der REM-Phase auf, also in dem Schlafstadium, in dem sich der Körper normalerweise, und eigentlich zum Schutz des Schlafenden, nicht bewegen kann. Regt sich in dieser Phase das Bewusstsein, kommt es häufig zu visuellen, akustischen, sensorischen und auch olfaktorischen Halluzinationen; Reste eines Traumes können durch das Gehirn wabern. Vielen Menschen erscheinen während einer Schlafparalyse ähnliche Gestalten: Schattenwesen oder alte Frauen, manchmal undefinierbare Geschöpfe, die einen packen oder zu ersticken drohen. Die Gründe sind noch nicht hinlänglich erforscht, aber glücklicherweise halten diese Zustände nicht lange an und die Betroffenen erwachen vollends.
Es gibt kombinierte Fälle, in denen das Schlafwandeln mit dem Ende der Kindheit schwindet, die Schlafparalyse jedoch ein lebenslanger, wenn auch nur sporadischer, harmloser, Begleiter bleibt. Unangenehm, aber ungefährlich.
Was wir träumen und wie es zu deuten ist
Nicht nur im Hinblick auf den Zweck unserer Träume, auch bezüglich deren Deutung gehen die Meinungen der Wissenschaftler weit auseinander. Der österreichische Psychoanalytiker Sigmund Freud vermutete Anfang des 20. Jahrhunderts, dass sich in unseren Träumen verdrängte Wünsche und Triebe offenbaren, und wies den Traumbildern eine meist sexuelle Symbolik zu. Sein ehemaliger Schüler Carl Gustav Jung lehnte diese einseitige Betrachtungsweise ab: In unseren Träumen, die er in unbedeutende und bedeutende einteilte, würden vielmehr das tagsüber Erlebte bzw. menschliche Erfahrungen eines kollektiven Unterbewusstseins aufgearbeitet. In der Zwischenzeit geht man davon aus, dass Träume aufgrund ihrer Individualität nur vom Träumenden selbst interpretiert werden können. Ein Therapeut kann dabei unterstützend wirken.
Auf dem Markt findet man eine Vielzahl von Büchern, die sich mit der Deutung von Traumbildern beschäftigen. Die Mehrzahl der Psychologen und Therapeuten hält diese Angebote für unseriös, denn häufig vorkommende Motive können bei verschiedenen Menschen eine ganz unterschiedliche Bedeutung haben. Gleichwohl gibt es Traummotive, die weit verbreitet sind und sich häufig wiederholen. Auch hier sind sich die Forscher uneins. Einige halten dies für reinen Zufall, manche vermuten physiologische Gründe, während andere wiederum Gefühle und innere Konflikte als Ursache ausmachen.
Fliegen
Plötzlich fliegen zu können gehört wohl zu den schönsten Träumen, die man haben kann. Man erhebt sich ohne Weiteres in die Lüfte, erkundet schwebend die Umgebung oder unternimmt längere Ausflüge über den Wolken. Manchmal mit schlagenden Armbewegungen wie ein Vogel, manchmal, als würde man dem Himmel entgegenschwimmen. Ob man nun grundlos vom Boden abhebt oder vor einer Gefahr flieht – das Empfinden ist meist das Gleiche: Leichtigkeit oder Erleichterung. Und Erleichterung ist hier auch das Stichwort. Vielleicht hat man tagsüber ein Problem gelöst oder eine unangenehme Situation, etwa eine Prüfung, hinter sich gebracht.
Nacktsein
Peinlich, peinlich: Im Traum begegnen wir bekleideten Menschen, während wir selbst aus unerklärlichen Gründen vollkommen oder teilweise entblößt dastehen. Wer sich im Traum nackt wiederfindet, durchlebt im Wachzustand wahrscheinlich eine Phase der Verletzlichkeit. Ein neuer Arbeitsplatz oder eine neue Beziehung, verbunden mit einem Gefühl der Unsicherheit, mag nach Einschätzung von Psychologen mit einem derart schambehafteten Traum einhergehen.
Prüfung
Die Schule oder das Studium womöglich schon vor 20 oder 30 Jahren erfolgreich abgeschlossen, und dennoch träumt man davon, dass man wichtige Prüfungen versemmelt, weil man der Einzige ist, der nicht ausreichend gelernt hat. Als Ursache für diesen Albtraum vermuten Psychologen ein mangelndes Selbstvertrauen und eine unbewusste Furcht, in bestimmten Bereichen des Lebens zu scheitern. Im Wachzustand setzen sich Menschen mit nächtlicher Prüfungsangst häufig selbst stark unter Druck.
Sturz aus großer Höhe
Ein Fall aus sehr großer Höhe, die Geschwindigkeit nimmt immer mehr Fahrt auf, der Aufschlag auf den Boden oder das Meer rückt ständig näher. Wer einen solch beängstigenden Traum hat, leidet nach Ansicht einiger Experten eventuell unter Kontrollverlust oder Versagensängsten. Denkbar wäre aber auch ein ungewöhnlicher Blutdruckabfall während des Schlafs.
Verfolgung
Ein weiteres Motiv aus der Kategorie „Albtraum“ manifestiert sich in der Verfolgung durch Monster, Mörder oder sonstige unheilvolle Gestalten. Lichtschalter funktionieren nicht, Türen lassen sich nicht verriegeln, der Träumende hetzt verängstigt durch dunkle Korridore, Wälder oder Gassen. Einige Forscher vermögen in Verfolgungsträumen durchaus auch positive Aspekte zu erkennen. So sollen sie unseren Vorfahren geholfen haben, Gefahrensituationen tagsüber besser zu meistern.
In der heutigen Zeit vermutet man jedoch, dass der Träumende im Wachzustand als bedrohlich empfundene Probleme lieber verdrängt, als sich ihnen zu stellen.
Luzide Träume
In etwa jedem dritten Traum widerfährt uns eine Widrigkeit oder ein Unglück: Unser Auto fliegt aus der Kurve, oder wir verlaufen uns in einem labyrinthähnlichen Kaufhaus. Manche Menschen nehmen ihre nächtlichen Missgeschicke nicht hin. Sie können willentlich in das Geschehen eingreifen, denn sie sind sich dessen bewusst, dass sie träumen. Solche Träume nennt man luzide Träume oder Klarträume. Klarträumer erkennen wiederkehrende Motive aus anderen Träumen. Funktionieren etwa, wie bereits erwähnt, sämtliche Lichtschalter einer Wohnung nicht, und haben sie diese Situation in vergangenen Träumen schon häufiger erlebt, werden Klarträumer gewahr, dass sie sich in einer nächtlichen Phantasie befinden, denn sie können währenddessen logisch denken. Auch die Begegnung mit längst verstorbenen Menschen oder sprechenden Tieren lässt die Klarträumer erkennen, dass es sich nicht um die Wirklichkeit handelt. In dem Moment des Erkennens nimmt man plötzlich die Umgebung gestochen scharf wahr: die Maserung einer Holztür, die Textur einer Treppe, Farben, Gerüche, Geschmack – alle Arten von Sinneseindrücken. Und man fragt sich: Wenn alles so echt wirkt – wie kann es dann ein Traum sein? Und jetzt wird es wirklich interessant. Sobald sich Klarträumer bewusst werden, dass sie träumen, können sie den weiteren Verlauf des Traumes beeinflussen. Sie erheben sich plötzlich in die Lüfte und fliegen davon. Sie gehen durch Wände, springen ins All, vernichten mit einem Handkantenschlag oder durch schlichtes Anpusten angreifende Vampire. In einem luziden Traum ist praktisch alles möglich – dem Träumenden sind keine Grenzen gesetzt!
Erstaunlicherweise sind es vor allem Kinder, die luzide träumen. Die Fähigkeit nimmt mit dem Erwachsenwerden in der Regel ab. Klarträume treten vor allen Dingen in der REM-Phase auf, in der normalerweise einige Hirnareale ihre Aktivität herunterfahren. Bei Klarträumern hingegen kommunizieren diese Areale intensiv miteinander und ermöglichen so das logische Denken im Schlaf. Luzides Träumen lässt sich übrigens trainieren. Der amerikanische Psychologe Stephen LaBerge hat die WILD-Methode (engl.: Wake-Initiated Lucid Dream, dt.: vom Wachzustand aus eingeleiteter Klartraum) entwickelt, mit deren Hilfe man beim Einschlafen direkt in einen Klartraum wechseln soll. Die MILD-Methode (engl.: Mnemonic Induced Lucid Dream, dt.: gedächtnisunterstützt hervorgerufener Klartraum) verfolgt hingegen das Ziel, aus einem normalen Traum in einen Klartraum zu gleiten.
Die willentliche Beeinflussung der Träume hat sicherlich ihren Reiz. Man kann es aber auch lassen und sich den nächtlichen Phantasien einfach hingeben. In diesem Sinne: gute Nacht und schöne Träume!